Konstruierte Freiheit
Über Fensterausschnitte sehe ich fragmentarische Fetzen privater Alltagsräume. Diese Indizien prasseln nüchtern auf mich ein. Es sind wie gesehene Gedankenfetzen, die neu zusammengebaut werden wollen. Je bewusster ich sie wahrnehme, desto klarer formen sie sich zu Zutaten eigen konstruierter Imaginationsräume zusammen. Einzelne Bruchstücke werden neu zusammengesetzt, verknüpft und existieren noch ungeformt in meiner Fantasie. “Sind manche Dinge im Hintergrund platziert, um eine bestimmte Richtung aufrechtzuerhalten, um die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was vor uns liegt. Zur Wahrnehmung gehören auch solche Handlungen, die vergessen werden, bevor man sich mit dem, was man vor sich hat, beschäftigt. Die Gegenstände, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten, zeigen uns bestimmte Richtungen.” (Sarah Ahmed) Sie funktionieren also ungefähr so wie eine Regieanweisung, quasi ein erläuternder Hinweis wie meine Imaginationswelt weitergehen könnte. Viele Objekte im Hintergrund werden meistens nur “mitwahrgenommen”. Diese zurückgedrängten unsichtbaren Fragmente, die oft nicht Gegenstand der Aufmerksamkeit sind, sollen in das bildhafte Denken rücken. “Der körperliche Horizont ist der Rand oder die Linie, welchen den Körper erreichen kann und Horizonte gehören daher zu den Grenzen des erfahrenen Umweltfeldes.” (Sarah Ahmed)
Was passiert neben dem Fenster?
Wohin geht die Tür und gehört die Katze am Fenster da noch dazu?
Dabei interessieren mich nämlich genauso die Zusammenhänge der einzelnen Fenster.
Die Räume und Bezüge zu deren Objekten.
Sind sie untereinander miteinander verbunden?
Auch physisch, oder ausschließlich digital?
Wie kann ich diese Kopfräume zu visuellen Räumen machen?
Und kann ich jetzt endlich mal eine andere Perspektive als Front View einnehmen?
Sie entstehen digital in einem Koordinatensystem einer 3D Software, angelegt zwischen x, y und z Achse als entscheidendes Hilfsmittel der analytischen Geometrie des Raumes. In diesem starren Gerüst des euklidischen Raumes, welches ich als Tool begreife, befinden sich modellierte Objekte, die sich nicht der analytischen Sehweise unterwerfen. Das heißt sie müssen keinem realen Maßstab entsprechen, können verzerrt, zerschnitten, verformt sein und müssen nicht auf horizontalen Ebenen den Gesetzen der Anziehungskraft folgend, geankert sein.
Dies steht als Gegensatz zur natürlichen Eigenschaft unseres Wahrnehmungsfeldes, welche nämlich “eine beachtliche Beständigkeit scheinbarer Größen auf der horizontalen Ebene zuzulassen, während diese mit der Distanz der vertikalen Ebene sehr schnell abnehmen und dies vermutlich deshalb, weil sich für uns irdische Wesen gerade auf der horizontalen Ebene unseres Lebensbewegung und Aktivitäten abspielen.” (Merleau-Ponty)
Es folgt keinem Bestreben, die Welt wiederzufinden, wie wir sie in der Lebenserfahrung begreifen, obwohl man mit diesem Werkzeug eine 1:1 Bestandsaufnahme rekonstruieren könnte.
Die gesehen Gedankenfetzen werden im dreidimensionalem Raum nachgebaut, erweitert und frei konstruiert. Es werden Räume gebaut, die meinen Imagination - und Wahrnehmungsgesetzen entsprechen, in denen verschiedene räumliche Perspektiven eingenommen werden, welche mir in den privaten Alltagsräumen verwehrt bleiben.
Dabei umkreise ich im dreidimensionalen Raum vor einem zweidimensionalen Fenster und bewege meinen Kopf im physischen Raum vor und zurück- das hilft bei der Orientierung.
Parallel fällt mir auf, wie bei mir die anderen Wahrnehmungsapparate still liegen und ich mich mit meinem Auge gern immer weiter von den vielen Fenstern in eins - in den Raum und die Räume im Hintergrund einklicke und mich zu den konstruierten Imaginationsräumen zoomen möchte.
Die Grenzen des erfahrbaren Körperhorizontes werden durchlässig. Aufgrund körperloser Nähe sind wir vernetzter und visuell viel enger, auf eine Art privater zusammengewachsen.
Durch die digitalen Ferngesellschaft müsste der Sehsinn stufenweise justiert werden.
Wie verändert sich nämlich die unmittelbarste Wechselbeziehung Auge zu Auge, wenn der Gegenüber ständig platt, in der Front View hängt und einem nie direkt in die Augen schaut?
Ich verliere die Aufmerksamkeit, werde zur Beobachterin und nehme den Notausstieg der Fantasie.
“Bei zwei sich physisch anblickenden Augen ist diese Verbindung so stark und fein, dass sie nur durch die kürzeste, die gerade Linie zwischen den Augen getragen wird, und dass die geringste Abweichung von dieser, das leiseste Zurseitesehn, das Einzigartige dieser Verbindung völlig zerstört. Die Wechselwirkung stirbt in dem Augenblick, in dem die Unmittelbarkeit der Funktion nachlässt; aber der ganze Verkehr der Menschen, ihr Sichverstehn und Sichzurückweisen, ihre Intimität und ihre Kühle, wäre in unausrechenbarer Weise geändert, wenn der Blick von Auge in Auge nich bestünde.” (Georg Simmel)
Wohin bewegt sich der homo digitalos? Hin zu einem vordergründig visuellen Wahrnehmer mit automatischer Filterfunktion, da zu viel digitaler Input?
Essay zum Theorieseminar Sensory Scapes von Sophia Prinz
Alexandra Mümmler, 31.05.2020
An der schönen blauen Donau
Nun ist die Sonne untergegangen, es dämmert bereits
und in der Ferne von P.Weibels Arbeitszimmer ertönt der Skype Ton.
klick.
H. Arendt sitzt rauchend auf ihrem Sessel bereit für
ihr virtuelles Diskussionsroulette.
P.Weibel: "Der Corona-Virus ist der unheimliche Bote, der den Wandel von der körper- und maschinenbasierten, analogen globalen Nahgesellschaft in eine signal- und medienbasierte digitale, globale Ferngesellschaft verkündet. | |
H.Arendt:"Alle menschlichen Tätigkeiten sind bedingt durch die Tatsache, dass Menschen zusammenleben, aber nur das Handeln ist nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft." | |
P.Weibel: "Heute kann jeder auf dem Smartphone sich sein Programm selbst zusammenstellen, unabhängig von der Masse." | |
H.Arendt: "Ein in völliger Einsamkeit arbeitendes Wesen wäre kaum noch ein Mensch; er wäre ein Animal laborans. Ein Wesen, das Dinge herstellt und eine nur von ihm bewohnte Welt erbaut, wäre zwar noch ein Hersteller, aber schwerlich kein Homo faber; es hätte eine spezifische menschliche Eigenschaft verloren" | |
P. Weibel:"Die sozialen Bedürfnisse nach Nähe bleiben partiell erhalten, weil wir eben im Zeitalter der digitalen Technologien leben und deswegen noch kommunizieren können. Wir treten nun endgültig in die digitale Welt ein, in eine neue Form der Nähe, in die symbolische, zeichen- und nicht körperbasierte Nähe." | |
H.Arendt: "Ein besonderer Bezug der das Handeln an das menschliche Zusammen bindet: Handeln allein ist das ausschließliche Vorrecht des Menschen; weder Tier noch Gott sind des Handelns fähig und nur das Handeln kann als Tätigkeit überhaupt nicht zum Zuge kommen ohne die ständige Anwesenheit einer Mitwelt." | |
P.Weibel: " Die Menschen dürfen sich als Körper nicht mehr bewegen und nicht mehr begegnen. Sie befinden sich in wohnhaft. Das ist die Verkündigung des Endes der analogen Nahgesellschaft. | |
H.Arendt: " Die Geburt eines neuen Zeitalters frei zu sein und etwas neues zu beginnen: frei zu sein für einen Neuanfang. Und jede Revolution durchläuft die Phase der Befreiung ehe sie die Freiheit verlangen kann." | |
P.Weibel: "Aus dem lokal gebundenen Massenpublikum im realen physischen Raum wird im nonlokalen, dezentralen, verteilten virtuellen Raum der Teletechnologie eine Versammlung von Individuen, aus der Agglutination wird eine Assoziation." | |
H.Arendt: "Freiheit hat ihren Sitz im Gesellschaftlichen." |