Entfernte Verwandte
Gegenwartsgefühle
Nachbarschaftshilfen, solidarische Unterstützung von Betroffenen, Aushilfe in überlaufenen Einrichtungen. Es gibt sie, die verbindenden Ansätze. Und trotzdem bleibt das Gefühl von Unerreichbarkeit, Unberührbarkeit, letztendlich sogar Unsichtbarkeit. Welche Menschen und Lebensrealitäten verschwinden derzeit aus unserem Blickfeld? Wo werden die Barrieren, die nun noch mehr als ohnehin schon zwischen uns stehen, so hoch, dass sie kaum noch eine Konfrontation mit dem, was uns äußerlich ist, ermöglichen?
Dass sich Solidarität nun über Distanzierung ausüben lasse, scheint nur in eine Richtung zu funktionieren. Denn dort, wo in Eigenverantwortung essenzielle Begegnung und Anerkennung keinen Ersatz finden, bleibt hinter den verschlossenen Türen eine klaffende Lücke. An den Stellen, wo nun kein Austausch mehr stattfindet, geht vielleicht etwas verloren, das das Bild unserer Gesellschaft differenzierter werden lassen könnte. Stattdessen finden wir uns zurückgeworfen auf den Vergleich mit der Norm - mit denjenigen, die leichter ihren Platz im Ausnahmezustand finden. Der marginalisierte Rest, der nicht in diese Rollenbilder passt, verschwindet als lediglich erahnbare Silhouette hinter den Grenzen unserer Wahrnehmung.
Wenn die Objekte, die uns verbinden, auch gleichzeitig diejenigen sind, die uns voneinander fern halten - Wie sehen dann Handlungen aus, die den Widerspruch aus Abgrenzung und Abhängigkeit in sich tragen? Ein Versuch, Verbundenheit auf Distanz zu ermöglichen/erzwingen und den imaginierten unberührten Privatraum in Abhängigkeit zum Außen, zum Kollektiven zu bringen.
Kollektive Vereinzelung
sich beeinflussen, verschieben, deplatzieren, sich begegnen, einander ausweichen, Platz verteidigen, Stellung beziehen, gemeinsam oder allein, (Gruppen-)Dynamiken entstehen lassen
.eigene Kontrolle vs. Abhängigkeit von Gruppe
.Isolation und Gebundenheit an andere (Widersprüchlichkeit!)
.kollektive Vereinzelung
.Wie funktioniert die Kommunikation als Gruppe?
.Mit wie viel Abstand ist Kommunikation überhaupt noch möglich?
Kernmotive
Körpergrenze/ Isolation/ Radius
.gefühlte private Zone
.Toleranz bei Eindringen abhängig von Vertrautheit, Stimmung, Krankheitsverdacht
.als Corona-Maßnahme erstmals universal für alle und statisch festgelegt auf 1,5m Radius
Grenze/ Barriere/ Blockade
.sichtbare Abtrennung eines INNEN und AUßEN
.Zugehörigkeit- und Abweisungsvermittlung
.Unterscheidbar in Transparenz, Ausdehnung, Materialität, Überwindbarkeit, Symbolik
Gemeinschaft aus vereinzelten Individuen
.visuelles Auftreten als Gruppe im Unterschied zum Verständnis als unabhängigen Individuum
.Mitglieder handeln trotzdem im eigenen Sinne
.Interdependenz
.eigene Kontrollmöglichkeit auch vom Verhalten der anderen abhängig
.Kommunikation?
Der Eindruck, dass die Krise bereits bestehende Dynamiken in unserer Gesellschaft verstärkt, bestätigt sich beim Blick auf unser Gemeinschaftsverständnis. Zwar besteht der Konsens, dass sich Solidarität nun über Distanzhalten zeigen ließe - allerdings darf nicht aus öffentlichen Debatten verschwinden, wie dadurch auch der Zugang zu anderen Lebensrealitäten verloren werden kann. Fehlen diese in unserer Wahrnehmung, bleibt das dominante konservative Modell eines Normalkörpers, der sich leichter in den Auswirkungen der politischen Entscheidungen zurechtfinden kann. Nicht zuletzt befeuern öffentliche Disziplinierungsmaßnahmen auch unser Selbstverständnis als eigenverantwortliches, isoliertes Individuum, das keinen Raum hat, zusätzlich mit Andersartigkeit konfrontiert zu werden. Ein Versuch, die aktuelle Situation auf ihr Kollektivvehältnis zu überprüfen.
Individualisierung
"Welche Art einer Besetzung des Körpers ist für das Funktionieren einer kapitalistischen Gesellschaft wie der unseren notwendig und hinreichend? [...] welchen Körper [braucht] die derzeitige Gesellschaft."
Michel Foucault, Analytik der Macht
"Die Wahrnehmung [in der Krise ein Mehr an egoistischem Handeln zu erkennen] selbst hat wahrheitsbildenden Charakter und wirkt performativ. Verhaltensweisen werden verinnerlicht, Deutungen fixiert, und es ist zu erwarten, dass sich einige Praxen des Distanzhaltens in der Gesellschaft festsetzen werden. Dies nicht zuletzt, weil die gegenwärtige Vereinzelung auf eine Gesellschaft trifft, die autoritäre, konkurrenzorientierte und individualistische Maxime bereits verinnerlicht hat"
"Im kontemporären Individualismus geht es längst nicht mehr um gesellschaftliche Freiheiten, die gegen einen starken Staat kollektiv als Einzelne in Stellung gebracht werden, sondern primär darum, erfolgreich an dem eigenen Glück zu arbeiten. [...] Die Corona-Krise droht daher, bereits bestehende Prozesse der konkurrenzorientierten Individualisierung zu verstärken und das Misstrauen gegenüber Kollektivität weiter zu erhöhen"
(Mit der Corona-Krise in eine autoritär-individualistische Zukunft? Fünf Dimensionen gesellschaftlicher Transformation, Daniel Mullis, Peace Research Institute Frankfurt Blog)
Ein Spaziergang durch die Kleingartenkolonie. Beobachtet aus einem Blickwinkel, in dem die einzelnen Parzellen zur Verkörperung der individualisierten Rückzugsräume werden. Mit klar definierten Grenzen lassen sie sich von einem Außen abgeschirmen, das weiterhin unumgänglich auf sie einwirkt. Orte der Zugehörigkeit und Abgrenzung zugleich.
Konstruierte Idylle
Atmen. Ich höre andere Geräusche, weniger Lärm, vielerlei Vogelstimmen. Es riecht nach Flieder und frisch gemähtem Rasen. Menschen lächeln mir zu. Ich bewege mich entlang der Zäune und Hecken, die Wege sind vorbestimmt und ergeben ein Netz aus vorstrukturierten Bahnen.
Dann kracht und rauscht es vom Wertstoffhof der BSR herüber, ein startendes Flugzeug brüllt mir zu, meine Raumwahrnehmung erweitert sich von den Grünflächen zu ihrer Umgebung. Ein nahezu panoptischer Zustand, umzingelt von Industrie und Büroblocks. Die vorerst vermutete Idylle rekonstruiert sich zu geplanten, zweckorientierten Flächen. Die erwartete Selbstbestimmung hinkt unter den Verordnungen der Kleingartenbestimmungen und der Konkurrenz um den perfektionierten Heckenschnitt.
Zaun an Zaun, zwischen freien Gestaltungsmöglichkeiten und Reduktion auf vorgegebene Raster. Der gedankliche Sehnsuchtsort kontrastiert die steifen Bedingungen, unter denen er konstruiert wird.
Auch transparente Grenzen bleiben Grenzen. Eine Reduktion der privatisierten Räume auf ihre Außenflächen, die gleichzeitig Austauschplattform als auch Trennungsmedium sind. Sie markieren die Absurdität des Abgrenzens und Verwobenseins. Wie sehen Begegnungen aus, die in einer Welt aus Barrieren stattfinden? Welche Inhalte schaffen es durch die Gitter der Zäune, welche bleiben verborgen?
Konfrontationsräume
Luisa Herbst Entfernte Verwandte
Entfernte Verwandte
Gegenwartsgefühle
Nachbarschaftshilfen, solidarische Unterstützung von Betroffenen, Aushilfe in überlaufenen Einrichtungen. Es gibt sie, die verbindenden Ansätze. Und trotzdem bleibt das Gefühl von Unerreichbarkeit, Unberührbarkeit, letztendlich sogar Unsichtbarkeit. Welche Menschen und Lebensrealitäten verschwinden derzeit aus unserem Blickfeld? Wo werden die Barrieren, die nun noch mehr als ohnehin schon zwischen uns stehen, so hoch, dass sie kaum noch eine Konfrontation mit dem, was uns äußerlich ist, ermöglichen?
Dass sich Solidarität nun über Distanzierung ausüben lasse, scheint nur in eine Richtung zu funktionieren. Denn dort, wo in Eigenverantwortung essenzielle Begegnung und Anerkennung keinen Ersatz finden, bleibt hinter den verschlossenen Türen eine klaffende Lücke. An den Stellen, wo nun kein Austausch mehr stattfindet, geht vielleicht etwas verloren, das das Bild unserer Gesellschaft differenzierter werden lassen könnte. Stattdessen finden wir uns zurückgeworfen auf den Vergleich mit der Norm - mit denjenigen, die leichter ihren Platz im Ausnahmezustand finden. Der marginalisierte Rest, der nicht in diese Rollenbilder passt, verschwindet als lediglich erahnbare Silhouette hinter den Grenzen unserer Wahrnehmung.
Wenn die Objekte, die uns verbinden, auch gleichzeitig diejenigen sind, die uns voneinander fern halten - Wie sehen dann Handlungen aus, die den Widerspruch aus Abgrenzung und Abhängigkeit in sich tragen? Ein Versuch, Verbundenheit auf Distanz zu ermöglichen/erzwingen und den imaginierten unberührten Privatraum in Abhängigkeit zum Außen, zum Kollektiven zu bringen.
Kollektive Vereinzelung
sich beeinflussen, verschieben, deplatzieren, sich begegnen, einander ausweichen, Platz verteidigen, Stellung beziehen, gemeinsam oder allein, (Gruppen-)Dynamiken entstehen lassen
.eigene Kontrolle vs. Abhängigkeit von Gruppe
.Isolation und Gebundenheit an andere (Widersprüchlichkeit!)
.kollektive Vereinzelung
.Wie funktioniert die Kommunikation als Gruppe?
.Mit wie viel Abstand ist Kommunikation überhaupt noch möglich?
Kernmotive
Körpergrenze/ Isolation/ Radius
.gefühlte private Zone
.Toleranz bei Eindringen abhängig von Vertrautheit, Stimmung, Krankheitsverdacht, ...
.als Corona-Maßnahme erstmals universal für alle und statisch festgelegt auf 1,5m Radius
Grenze/ Barriere/ Blockade
.sichtbare Abtrennung eines INNEN und AUßEN
.Zugehörigkeit- und Abweisungsvermittlung
.Unterscheidbar in Transparenz, Ausdehnung, Materialität, Überwindbarkeit, Symbolik
Gemeinschaft aus vereinzelten Individuen
.visuelles Auftreten als Gruppe im Unterschied zum Verständnis als unabhängigen Individuum
.Mitglieder handeln trotzdem im eigenen Sinne
.Interdependenz
.eigene Kontrollmöglichkeit auch vom Verhalten der anderen abhängig
.Kommunikation?
Der Eindruck, dass die Krise bereits bestehende Dynamiken in unserer Gesellschaft verstärkt, bestätigt sich beim Blick auf unser Gemeinschaftsverständnis. Zwar besteht der Konsens, dass sich Solidarität nun über Distanzhalten zeigen ließe - allerdings darf nicht aus öffentlichen Debatten verschwinden, wie dadurch auch der Zugang zu anderen Lebensrealitäten verloren werden kann. Fehlen diese in unserer Wahrnehmung, bleibt das dominante konservative Modell eines Normalkörpers, der sich leichter in den Auswirkungen der politischen Entscheidungen zurechtfinden kann. Nicht zuletzt befeuern öffentliche Disziplinierungsmaßnahmen auch unser Selbstverständnis als eigenverantwortliches, isoliertes Individuum, das keinen Raum hat, zusätzlich mit Andersartigkeit konfrontiert zu werden. Ein Versuch, die aktuelle Situation auf ihr Kollektivvehältnis zu überprüfen.
Individualisierung
"Welche Art einer Besetzung des Körpers ist für das Funktionieren einer kapitalistischen Gesellschaft wie der unseren notwendig und hinreichend? [...] welchen Körper [braucht] die derzeitige Gesellschaft."
Michel Foucault, Analytik der Macht
"Die Wahrnehmung [in der Krise ein Mehr an egoistischem Handeln zu erkennen] selbst hat wahrheitsbildenden Charakter und wirkt performativ. Verhaltensweisen werden verinnerlicht, Deutungen fixiert, und es ist zu erwarten, dass sich einige Praxen des Distanzhaltens in der Gesellschaft festsetzen werden. Dies nicht zuletzt, weil die gegenwärtige Vereinzelung auf eine Gesellschaft trifft, die autoritäre, konkurrenzorientierte und individualistische Maxime bereits verinnerlicht hat"
"Im kontemporären Individualismus geht es längst nicht mehr um gesellschaftliche Freiheiten, die gegen einen starken Staat kollektiv als Einzelne in Stellung gebracht werden, sondern primär darum, erfolgreich an dem eigenen Glück zu arbeiten. [...] Die Corona-Krise droht daher, bereits bestehende Prozesse der konkurrenzorientierten Individualisierung zu verstärken und das Misstrauen gegenüber Kollektivität weiter zu erhöhen"
Ein Spaziergang durch die Kleingartenkolonie. Beobachtet aus einem Blickwinkel, in dem die einzelnen Parzellen zur Verkörperung der individualisierten Rückzugsräume werden. Mit klar definierten Grenzen lassen sie sich von einem Außen abgeschirmen, das weiterhin unumgänglich auf sie einwirkt. Orte der Zugehörigkeit und Abgrenzung zugleich.
Konstruierte Idylle
Atmen. Ich höre andere Geräusche, weniger Lärm, vielerlei Vogelstimmen. Es riecht nach Flieder und frisch gemähtem Rasen. Menschen lächeln mir zu. Ich bewege mich entlang der Zäune und Hecken, die Wege sind vorbestimmt und ergeben ein Netz aus vorstrukturierten Bahnen.
Dann kracht und rauscht es vom Wertstoffhof der BSR herüber, ein startendes Flugzeug brüllt mir zu, meine Raumwahrnehmung erweitert sich von den Grünflächen zu ihrer Umgebung. Ein nahezu panoptischer Zustand, umzingelt von Industrie und Büroblocks. Die vorerst vermutete Idylle rekonstruiert sich zu geplanten, zweckorientierten Flächen. Die erwartete Selbstbestimmung hinkt unter den Verordnungen der Kleingartenbestimmungen und der Konkurrenz um den perfektionierten Heckenschnitt.
Zaun an Zaun, zwischen freien Gestaltungsmöglichkeiten und Reduktion auf vorgegebene Raster. Der gedankliche Sehnsuchtsort kontrastiert die steifen Bedingungen, unter denen er konstruiert wird.
Auch transparente Grenzen bleiben Grenzen. Eine Reduktion der privatisierten Räume auf ihre Außenflächen, die gleichzeitig Austauschplattform als auch Trennungsmedium sind. Sie markieren die Absurdität des Abgrenzens und Verwobenseins. Wie sehen Begegnungen aus, die in einer Welt aus Barrieren stattfinden? Welche Inhalte schaffen es durch die Gitter der Zäune, welche bleiben verborgen?
Konfrontationsräume
Luisa Herbst Entfernte Verwandte