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Synthetic Space Maria Kobylenko
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Synthetic Space Maria Kobylenko
„Synthetic Space“ spielt mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „synthetisch“. Zum einen bedeutet es künstlich (erzeugt) und könnte so auf ein virtuelles Verlagern hindeuten, von dem auch Peter Weibel in seinem Essay „Virus, Viralität, Virtualität“ erzählt. Er fragt nach dem Sinn von Orten wie Konzerthallen oder Spielstätten, da wir aus den "Unterhaltungsformen der Nahgesellschaft", in eine "Ferngesellschaft" übergehen würden.
Von Synthese spricht man auch, wenn einzelne (gegensätzliche) Elemente sich zu einem neuen (höheren) Ganzen verbinden. Diese Interpretation eröffnet die Bedeutung von kollektiver Raumproduktion und -erfahrung. Wie Lefebvre sagte: Raum ist immer sozial konstruiert.
Wie können alternative Freiräume entworfen werden, die sinn-, gemeinschafts- und identitätsstifend wirken, für jeden frei zugänglich sind und abseits kommerzieller Interessen funktionieren? Ausgehend vom RAW Gelände, an der Warschauer Straße in Berlin, entwickelt sich die Arbeit in eine Untersuchung über die Berliner Club Culture. Die Idee eines kollektiven, atmosphärischen Wahrnehmungsraumes, als Ort des Austauschs und der Begegnung, bildet das Fundament.
Das Fazit lautet: Berlins (soziokulturelle) Freiräume müssen Bestandteil des Stadtzentrums bleiben und dürfen nicht an den Stadtrand gedrängt werden. Vielmehr muss ein urbanes Gleichgewicht geschaffen werden aus Orten die keinen produktiven Nutzen verfolgen und nicht auf den Güterkonsum ausgelegt sind.
Atmosphärisches Mapping: RAW Gelände Collage
Bereits 2015 hat KURTH Immobilien das RAW Gelände zu großen Teilen (52 000 m²) aufgekauft. Erhalten bleiben soll das "Kulturelle L", ein Zusammenschluss aus Kunst- und Kulturvereinen sowie alternativen Gastronomie-Betrieben. Der Großteil wird jedoch entfernt und neu bebaut. Cafes, Gewerberäume, Wohnungen sollen unter anderem her, es soll jedoch auch ein neuer, repräsentativer Stadtplatz entstehen. Der neue Bebauungsplan wird die Atmosphäre um die Warschauer Straße herum vermutlich stark verändern. Der wild zusammengeschusterte Charme des RAW'S, zu dem ganz unterschiedliche AkteurInnen der Stadt beigetragen haben, wird an das hochglanzpolierte Areal um die Mercedes Benz Arena angepasst. RAW steht für Reichsbahnausbesserungswerk und gilt als alternatives Kulturprojekt. Bis heute werden dort viele Häuser selbst verwaltet und an Kulturschaffende vermietet, so befinden sich auf dem Areal nicht nur Ateliers und Werkstätten, sondern Liveclubs (z.B. ehemaliger RAW Tempel, Cassiopeia, Suicid Circus), Bars, Proberäume, ein Freiluftkino mit Kletterwänden, eine Skatehalle, Konzerthallen und auch ein sonntäglicher Flohmarkt findet dort statt.
"Der 1998 von Anwohn*erinnen gegründete Verein RAW-tempel e.V. konnte dank der Unterstützung des damaligen Bezirksamts Friedrichshain im Juli 1999 mit der Zwischennutzung auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerkes ‚Franz Stenzer‘ beginnen. Damals haben ca. 30 Projekte und zahlreiche Vereinsmitglieder und Unterstütz*erinnen begonnen, die Häuser nutzbar zu machen und Räume für Kunst und Kultur aller Sparten zu erschließen." https://www.raw-tempel.de/
PETER WEIBEL IN "VIRUS, VIRALITÄT, VIRTUALITÄT"
"Es scheint nun, dass die gigantischen Stadien und Opernhäuser die Pharaonengräber der Zukunft sind. Übersteigerte bizarre Architektur-Signaturen, bereits geschaffen im Bewusstsein des Todes der Unterhaltungsformen der Nahgesellschaft, werden sich in Kürze als überflüssig erweisen. Wenn sie denn ohne Publikum bleiben, wenn es nur noch Geisterspiele in Stadien und Konzerthäusern gibt, wird man sich fragen, warum man eigentlich solche gigantischen leeren Spielstätten benötigt." https://zkm.de/de/virus-viralitaet-virtualitaet
Sensory Scapes – zur Politik der Oberfläche (Seminar bei Sophia Prinz)
1. Einleitung
Tanzveranstaltungen mit überfüllten Innenräumlichkeiten sind aktuell unvorstellbar. So soll im Juli eine Clubbesucherin in der Schweiz ungefähr 280 Menschen angesteckt haben, trotz negativen Corona-Test1. Belege für solche Masseninfektionen im Club häufen sich. Berlin ist Risiko-Gebiet, ab kommenden Samstag dürfen sich nur noch maximal fünf Personen im Freien treffen. Die B.Z. berichtet: „Die Maßnahmen zielen vor allem auf private Feiern und illegale Partys, die die Berliner Behörden als Treiber des Infektionsgeschehens sehen.“2
Clubs stehen vor neuen Herausforderungen, die ihre gewohnten Konzepte in Frage stellen. Die Bedeutung solcher Orte rückt in ein neues Licht: als Orte sozialer Interaktion, die sich auch der wachsenden Verantwortung als „kulturelle Einrichtungen“ verschreiben möchten. Gleichzeitig formiert sich eine Gegenströmung in Form von illegalen Raves*, die weg von der Kommerzialisierung zu einem Revival der ursprünglichen Subkultur führt.
Was ist Clubkultur? Welchen gesellschaftlichen Stellenwert haben Clubs in einer Großstadt? Im Folgenden soll Raumerfahrung im Club als ästhetische Praktik, nach Andreas Reckwitz, analysiert werden.Ist das Konzept des Clubs, in einer vor Seuche erstarrten Gesellschaft, überhaupt noch umsetzbar?
2. Was ist Clubkultur?
Die hier angeführte Clubkultur bezieht sich auf die Nachwende-Generationen in Berlin, mit Hinblick auf die zeitgenössische Techno-Szene. Nach dem Mauerfall standen im Osten unzählige Gebäude unbenutzt und leer, da die sowjetischen Verwaltungen aufgelöst wurden und die Verantwortlichkeiten zunächst wegfielen.Viele VermieterInnen setzten auch auf bewussten Verfall der Immobilien, um teure Neubauten rechtzufertigen. Ein „Übermaß an Raum“3 beflügelte die Menschen Freiräume zu gestalten, mit Raum zu experimentieren und neue Subkulturen zu formieren. Das Besetzen von Häusern fing schon in den Siebziger Jahren an. Dieses Bedürfnis ging nicht nur mit mangelndem oder unbezahlbarem Wohnraum einher, sondern auch mit dem Wunsch nach einer parallelen Gesellschaft, die selbstverwaltet und alternativ sein wollte. Gelebte Heterotopien. Diese Strategie der Raumaneignung wurde schließlich auf die Eröffnungen von Bars und Clubs übertragen.4 So entstanden Andersorte zum geselligem Beisammensein.
„Eine neue Stadteilkultur entwickelt sich hier und schafft sich ihre eigene Infrastruktur. Bars, Clubs, Partyorte und Kunstgalerien ohne Konzession schießen wie Pilze aus dem Boden und verschwinden wieder, um an anderer Stelle erneut aufzutauchen.“5
Alte Industriebrachen, Häuser, Lagerhallen und alle möglichen Orte wurden umfunktioniert. Seien es Fabriken oder Bahnausbesserungswerke, wie das RAW Gelände an der Warschauer Straße.* Solche Orte eignen sich besonders, da sie eine hohe Raumkapazität bereit stellen und dadurch für ein intensives Klangerlebnis sorgen. Auch sind Fabrik- und Wohngelände meist vonaneinander getrennt, was einen weiteren Vorteil bei der Musiklautstärke bringt. Dabei sind die abgelegene, ehemalige Hundekuchenfabrik, das Sisyphos oder das ehemalige Heizkraftwerk Berghain im Osten Berlins zu nennen.
Bis ins Ende der Neunziger Jahre wuchs die Beliebtheit von Clubs immer mehr, sodass eine Kommerzialisierung und ein Abgleiten in den Mainstream unvermeidbar wurden. Besonders die Berliner Clubladschaft ist exorbitant ausgeprägt und ein beliebtes Reiseziel für Touristen aus aller Welt. Mit mehr als 9000 Arbeitsplätzen6 und einem Gesamtumsatz von schätzungsweise 168 Millionen Euro, zählt der Club- und Veranstaltungsbetrieb somit als erheblicher Attraktivitäts- und Wirtschaftsfaktor für die Stadt.7 Sogenannte Kollektive kümmern sich um das Cluberlebnis, was generiert werden soll. Die Tätigkeiten sind vielfältig: sie beinhalten die Mietung der Location (Club) und der jeweiligen technischen Geräte zur Wiedergabe von (Live) Musik, das Booking der Artists (Acts, DJ‘s), die Erstellung von Werbemedien (Poster, Flyer), das Schalten der Veranstaltung in den sozialen Netzwerken, das Organisieren von Sicherheitsfachkräften zur Türselektion und einem Awerness-Team bis hin zur Dekoration, Video- und Lichttechnik. Die meisten Clubs haben ihre Resident-Artists, ihr eigenes Sicherheits- und Barpersonal und besitzen auch entsprechende Technik zur Musikwiedergabe. Parallel dazu existieren immer noch Events die illegal-privat organisiert werden, dabei werden Locations für eine Nacht okkupiert und sind nicht für die dauerhafte Nutzung bestimmt. Dabei kann es sich sowohl um ein Open Air, ein Festival als auch eine verlassene Lagerhalle handeln. Die VeranstalterInnen emanzipieren sich und eigenen sich Raum an, dadurch gestalten sie ihre urbane Wirklichkeit aktiv mit. Üblicherweise agieren sie auf Spendenbasis und versuchen sich dadurch dem Mainstream zu entziehen.
6 Clubcomission Berlin E.V. (2019): Clubkultur Berlin, S32; Geschätzter Gesamtumsatz der Berliner Club- und Veranstaltungsszene
2017
7 Ebd., S. 29
8 Schulz, Andreas; Strukelj, Tanja (2019): Rausch und Ekstase, Erkundungen der Spaßgesellschaft, Soziologie Magazin,
Heft 19, Budrich Verlag, S. 1
9 Rietveld, Hillegonda C. (2004): Ephemeral Spirit, Sacrificial Cyborg and Communal Soul , Rave Culture And Religion,
Edited by Graham St. John, S. 52-53
10 Vgl. Simmel, Georg (1999): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Suhrkamp,
S.734; „Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt“
11 Vgl. Böhme, Gernot; Thibaud, Jean-Paul (2016): The Aesthetics of Atmospheres, S. 287
12 Clubcomission Berlin E.V. (2019): S. 29
13 Reckwitz, Andreas (2015): Sinne und Praktiken - Die sinnliche Organisation des Sozialen, S. 452
14 Reckwitz, Andreas (2019): Ästhetik und Gesellschaft - ein analytischer Bezugsrahmen, S.25;
„1.Selbreferenzialität sinnlicher Wahrnehmung vs. instrumentelle Wahrnehmung“
15 Vgl. Ebd., S.23
16 Vgl. Ebd. S.26, 29
17 Reckwitz, Andreas (2015): S. 453
18 Reckwitz, Andreas (2019): S. 27; 2. „Kreative Gestaltung“ vs. regelorientiertes Handeln“
19 Vgl. Böhme, Gernot; Thibaud, Jean-Paul (2016): S.255
20 Vgl. ebd., S.255
21 Vgl. ebd. : S.258-259
22 Reckwitz, Andreas (2019): S. 27; 3. Affiziertheit vs. Affektneutralität
23 Reckwitz, Andreas (2019): S. 34
24 Vgl. Reckwitz, Andreas (2008): Unscharfe Grenzen - Perspektiven der Kultursoziologie, transcript, S. 271;
„4.Interpretationen vs. Informationen“
25 Vgl. Clubcomission Berlin E.V. (2019): S. 12
26 Reckwitz, Andreas (2019): S. 29; 5. Spiel vs Ordnung
27 Vgl. Bräunlein, Peter J. (2012): Zur Aktualität von Victor W. Turner, Einleitung in sein Werk, In betwixt and between:„
Liminalität “ und „Communitas “, Springer, S.52
28 Vgl. Smallwood, Jonathan; Schoole, Jonathan W. (2006): The Restless Mind, Psychological Bulletin, Vol. 132, No.
6, S. 947, 951
29 Hoffmann , Arthur (2019): Rausch und Ekstase, Erkundungen der Spaßgesellschaft, Soziologie Magazin, Heft 19,
Budrich Verlag, S. 35
30 Schwanhäußer, Anja (2010): S. 13
31 Hoffmann , Arthur (2019): S.39
32 Vgl. Clubcomission Berlin E.V. (2019): S. 15,
https://www.creative-footprint.org/wp-content/uploads/2020/06/Methodology-
Creative-Footprint.pdf
33 https://taz.de/Berliner-Clubszene/!5727462/ letzter Zugriff: 20.12.20, 14:54
34 Vgl. Clubcomission Berlin E.V. (2019): S. 5
35 https://taz.de/Berliner-Clubszene/!5727462/, letzter Zugriff: 20.12.20, 14:54
36 Overmorrow - Immersiv Art Exhibition, https://www.overmorrow.de/, letzter Zugriff: 13.11.20, 18:13
3. Welchen gesellschaftlichen Stellenwert hat Clubkultur? Kann Clubkultur als
ästhetische Praktik verstanden werden?
Das Feiern von Festen ist ein konstitutiver Bestandteil der Menschheitsgeschichte, darauf begründet, dass in „allen Gesellschaften (zu allen Zeit und allerorten) […] irgendwelche kulturelle Rahmenbedingungen des Erlebens vorproduziert und vororganisiert [werden], die den Menschen außergewöhnliche Erlebnisse bzw. außeralltägliche Erlebnisqualitäten in Aussicht stellen.“8 Was einst mit der Religion verwoben war, wie es der Karneval als religiöses Relikt offenbart, stellt sich einer zeitgenössichen Neuinterpretation oder Sinnsuche. So könnte auch die voranschreitende Säkularisierung mit einer gesteigerten Lust nach Konsum und körperlicher Stimulation zusammenhängen. Bei der Suche nach neuer Spiritualität finden Reizüberflutung und Überstimulierung der Wahrnehmung ihre besondere Bedeutung und werden bei einer Clubnacht bewusst inszeniert, um als einprägende Erfahrung verinnerlicht zu werden. Club-Räume sind menschenüberfüllt, verqualmt mit Zigarettenrauch und künstlich erzeugtem Nebel. Gesprächsfetzen sind permanent zu hören, grelle Lichter und Laser schießen über die Tanzflächen. Schweiß- und Alkoholgeruch hängen in der Luft. Laute elektronische Musik dröhnt aus der Function One und hypnotisiert die Gäste. Repetitive, computergesteuerte Sounds münden in der Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine.9
Schon Simmel spricht von einer Anpassung der Sinne an voranschreitende Entwicklungen in einer modernen Großstadt, der Mensch schütze sich mit verminderter Reizwahrnehmung vor Reizüberflutung („Choc-Wirkung“).10 Um dem Gefühl von Entsinnlichung in der anonymen, schnelllebigen und rationalisierten Großstadt zu entkommen, wächst das Verlangen nach einer intensiven, sinnlich-körperlichen Erfahrung umso mehr. Böhmes Betrachtung kann dabei als Analogie verstanden werden, indem er darauf hinweist, dass Musik seit dem zwanzigsten Jahrhundert bis heute immer mehr zur freien Verfügung stehe, was einer Lärmbelästigung gleich käme. Durch diese dauerhafte Verfügbarkeit würde jedoch auch das Verlangen nach Musik umso mehr steigen, da Musikkonsum zum wichtigen Lebensbestandteil der Menschen geworden sei.11
Das Rituelle kommt mit dem Habitus, also mit der regelmäßigen Teilhabe an Veranstaltungen und dem sich daraus ableitendem Sozialverhalten zum Ausdruck. Soziale Gruppierungen formieren sich, die sich anhand ihres Kleidungsstils und ihres Mindsets („Spirit“) zusammengehörig fühlen. Bereits intakte soziale Strukturen werden auf diese Weise gefestigt oder es kommt zu einer Erweiterung des sozialen Kreises. Laut Clubcommision Berlin E.V. sehen viele Berliner den Club als „verlängerte[s] Wohnzimmer“. 12
Club Culture proklamiert gegenseitigen Respekt, Offenheit, Solidarität, Anti-Diskriminierung und den Kampf gegen Homophobie („PLUR“: Peace, Love, Unity, Respect). Dadurch entstehen nicht nur Schutzräume für marginalisierte Gruppen der LBGTQ* oder PoC Communities, sondern auch Räume für indentitäre Experimente die sich expressiv oder sexuell äußern können. Potentiell eröffnet der Clubraum Begegnungen aus weltweit unterschiedlichen Kulturen und sozialen Hierarchien. Grundsätzlich enstehen Räume des Austauschs und der kollektiven „ästhetischen Wahrnehmung“. Andreas Reckwitz sieht ästhetische Wahrnehmung als wesentliches Merkmal von ästhetischen Praktiken, welche aktuell immer mehr Einfluss auf die Gesellschaft nehmen würden.13 Dabei gehe es nicht um zweckrationales Wahrnehmen zur Informationsgewinnung, als vielmehr das sinnliche Erleben selbst.14 Diese „Selbstreferenzialität“ definiert er als das erste von fünf Kriterien ästhetischer Praxis. So ist auch die Cluberfahrung an das sinnliche Erleben der Umgebung gebunden, die für diesen Zweck szenisch gestaltet wurde (Musik, Deko, Licht, usw.). Das Fotografieren und Filmen ist im Club untersagt, so erhöht sich der Fokus auf das sinnliche Wahrnehmen der Umgebung. Reckwitz betont dabei die Untrennbarkeit zwischen dem Sozialen und dem Sinnlichen, da beides einander bedinge.15 Erst ein wahrnehmender Körper sei zum sozialen Interagieren befähigt, soziale Handlungen wiederum beinflussen die sinnliche Wahnehmung.16 So sei auch die Beurteilung ästhetischer Praktiken nicht von sozialen und somit kulturellen Phänomen zu entkoppeln.17
Im Club zeichnet sich das Sinnlich-Soziale unter anderem in den selbstinszinierenden Tanz- und Kleidungsstilen der Gäste ab. Verkleidungen und Outfits werden extra gefertigt oder erworben, sie reichen von Glitzer-Makeup über aufwendig konzipierte Drag- Queen-Kostüme. Der Clubraum offenbart sich somit als permanent performative Bühne. Die Grenzen zwischen RezipientInnen und ProduzentInnen verwischen, denn das Publikum wird in die Gestaltung der Raumatmosphäre involviert. Auch diesen perfomativen Moment benennt Reckwitz als Merkmal von ästhetischen Praktiken.18 Das Prinzip des Clubs kann grundlegend als sinnlich-soziale Erfahrung eingeordnet werden, denn es basiert auf der Wechselwirkung zwischen Artists und Publikum und dem Publikum untereinander. Erfahrene Artists versuchen die Stimmung des Publikums aufzufangen und zu dirigieren, was unter anderem in Pausen, Drops, schnellen oder langsamen Wechseln der Musik, also einer An- und Entspannung zum Ausdruck kommt. Auch das Lichtdesign und eventuelle Visuals (Videokunst) erzeugen Stimmungen und lenken diese. Solche Stimmungen reichen von wild, fröhlich-ausgelassen bis aggressiv, erhaben, traurig oder stumpf.
Ein (Musik-)erlebnis, welches gegensätzliche Gefühle hervorruft, erzeugt dadurch eine wirkunsgvollere und eindringlichere Atmosphäre.19 Jeder gute Club bedient sich dabei seiner ganz eigenen Stilmittel und Markenzeichen, um bestimmte Atmosphären zu suggerieren und letztendlich zu verkaufen, denn auch Atmosphären sind nach Böhme zu Urteil reproduzierbar.20
Verdichtet sich die emotionale Stimmung der Gäste, so verdichtet sich die Atmosphäre im Raum, Böhme beschreibt diesen Effekt als affektive Resonanz. Musik sei dabei ein besonderes Kriterium, da sie als „sound material“ nicht nur die emotionale Stimmung der Anwesenden direkt beinflusse sondern auch den physischen Raum transformiere.21 Nach Reckwitz eröffnet diese „Affiziertheit“ die dritte Eigenschaft ästhetischer Praxis.22
Der Rationalismus des routinierten Alltags wird durch ästhetische Praktiken kompensiert. 23 „Im Interesse an einer Steigerung und Intensivierung von Erleben, Wahrnehmung, Gestaltung und Affekt forcieren sie eine offensive Semiotisierung von Welt“.24 Diese „Semiotisierung“ bzw. Bedeutungssysteme können mehrdeutig interpretiert werden, und lassen sich nicht auf einen bestimmten Zweck reduzieren.24 Als Beispiel dafür können die Dekorationen eines Clubraums dienen, die sich in fiktiven Szenarien manifestieren, so in etwa „das Subkulturelle (“der Keller”), das Sakrale (“die Kathedrale”), das Maritime (“das Boot”), das Rustikale (“die Holzhütte”), das Verruchte (“das Bordell”), das Knallige (“der Vergnügungspark”), das Psychedelische (“der Dschungel”), usw.“.25 Zweckrationalität wird durch das Irrationale und das Spielerische abgelöst.
Das äußert sich vor allem auch in der Erprobung neuer und experimenteller Musikformen und deren Weiterentwicklung. Es können neue Genres enstehen, die wiederum die Entstehung neuer Subkulturen fördern. Durch das Experiment werden Elemente auf kreative Weise kombiniert, um unbekannte Möglichkeiten zu erproben. „Die experimentelle und grenzüberschreitende Struktur ästhetischer Praktiken bietet den Hintergrund für eine kritisch-selbstreflexive Öffnung , die der ästhetischen Praxis einen politischen Charakter geben kann. Sie sind [...] so reguliert, dass der experimentelle oder grenzüberschrreitende Umgang mit Sinnen, Affekten und Interpretationen in ihnen ermutigt oder verlangt wird“.26
Auch Victor W. Turner spricht Ritualen eine liminalen Zustand zu, der beschreibt, dass man sich in einer mehrdeutigen Übergangsphase befindet die zum Nachdenken anstößt.27 Die tranceartig ausgeführten Tanzbewegungen, die bis zu mehreren Stunden anhalten können, in Kombination mit der extrem lauten, repitativen Musik bieten die ideale Grundlage, um interne Denkprozesse freizulegen. Unterhaltungen sind nicht möglich, man ist auf seinen Körper ausgerichtet, die äußeren Reize werden gedämpft, da sonst eine totale Reizüberflutung eintreten würde (Schock), dadurch stellt sich das obligatorische „mind wandering“ ein. Ein Phänomen, was bei automatisierter oder einfacher Aufgabensbewerkstelligung auftritt, um die eigenen Gedanken und Emotionen unterbewusst zu observieren und anschließend zielbewältigende Handlungen zu aktivieren.28
Psychologisch betrachtet werden durch Rituale „kollektive Vorstellungen, Werte, Normen und Mythen einer Gesellschaft revitalisiert“ und es kommt zu einer temporalen Ablösung vom gewohnten Alltagsleben, der profanen Welt.29 Clubkultur kann als ästhetische Praktik verstanden werden, die Raum für Reflexion, Interaktion und Kompensation bietet. Bekannte Denkkategorien und normative Systeme werden hinterfragt, was sich unter anderem mit Musik- und Gestaltungsexperimenten, queeren Kollektiven/Initiativen oder dem Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit äußert. So etwa in Form von weiblichen Türsteherinnen. Ob sich dadurch ein subversives Potential verwirklicht ist fragwürdig. Auch in der Clubkultur gibt es große Defizite, so in etwa in der Etablierung weiblicher DJ‘s. Hinzu kommt, dass Clubkultur auf kulturindustriellen Prinzipien, also der ökonomischen Verwertung und Gewinnmaximierung, beruht.
4. Ausblick
Das Konsumieren von Erlebniswelten zeichnet unsere Gesellschaft aus, was nach Anja Schwanhäußer mit einer „Festivalisierung“ der StadtbewohnerInnen einhergehe.30 Mit unzähligen Event-Angeboten reagiert die Kulturindustrie darauf das Gefühl von Zusammengehörigkeit durch das kollektive Erleben zu vermarkten und Hedonismus salonfähig zu machen. Erfahrung wird kommodifiziert. Club Culture verschreibt sich ganz klar dem Vergnügen. Dabei werden heterotope Welten simuliert, die nicht jedem zugänglich sind. TürsteherInnen selektieren willkürlich die Crowd, außer man steht auf der Gästeliste und entkoppelt sich aus dem Prozedere des Anstehens, um reinzukommen. Das auserwählte Publikum beteiligt sich dabei maßgeblich mit seinen Stimmungen an der Gestaltung der Raumatmosphäre. Die Idealvorstellung einer verbündeten Welt voller Liebe und Glück eröffnet sich jedoch einem eher westlich geprägten und gut situiertem Publikum. Gleichzeitig findet in der Clubkultur eine mentale Aufarbeitung statt, um mit der voranschreitenden Digitalisierung und Technisierung in unserer postmodernen Gesellschaft umzugehen und für kreative Prozesse umzudeuten oder diese sogar zu steigern.„Im Allgemeinen erhält der Exzess also seine Legitimation, wenn er als Vorbedingung der Produktion im Sinne einer reproduktiven Auszeit gilt und die alltägliche Sphäre der Produktion positiv beeinflusst, wenn nicht erst ermöglicht.“31
So misst der „Creative Footprint“ die Impacts kultureller Orte, sowie des Nachtlebens, auf eine Stadt. Diese Initiative konnte nachweisen, dass Berlins Attraktivität durch Clubs steigt, insbesondere für die „Creative Class“32. Diese Attraktivität befeuert widerum die Gentrifizierung und führt zu Clubsterben. Durch steigende Mieten werden Clubs zu Schließungen und Verdrängungen an den Stadtrand gezwungen, wie der neu eröffnete Club Grießmühle in Berlin Schöneweide bezeugen kann. (Ursprünglicher
Standort: S-Bahnhof Sonnenallee)
Schon lange fordern Clubs eine Gleichstellung mit kulturellen Einrichtungen, wie Theatern oder Konzerthäusern. Seit November 2020 wurde die Baunutzungsverodnung vom Berliner Senat nach langem Kampf geändert, sodass Clubs in Berlin nicht mehr als „Vergnügungsstätten“ gelten und dadurch mit Bordellen oder Spielotheken gleichgestelltwerden.33 Laut Clubcomission Berlin erschwere dieses Image nicht nur längerfristige Mietverträge, sondern auch finazielle Förderungen.34 Das Berghain hat es schon 2016 vorgemacht: das Finanzgericht Berlin-Brandenburg erkennt seine Veranstaltungenals kulturell an. Kulturelle Leistungen dieser Art werden mit nur 7% Umsatzsteuer belegt.35
Besonders die Corona-Pandemie macht deutlich, dass alternative Bespielungsformate entwickelt werden müssen, die nicht nur die lokale Kulturszene fördern. Das fängt schon mit einer kritischen Haltung gegenüber der Artist- bzw. Musikauswahl (Stichwort: kulturelle Aneignung) an. In Berlin gibt es queere Kollektive wie „Room 4 Resistance“ oder das „No Shade Kollektiv“, die sich sich aktiv für mehr gender diversity einsetzen. Auch das Label „New World Dysorder“ fördert die QTPOC-Szene. Nicht zuletzt würde ein Integrieren der „Öffentlichkeit“ durch gemeinnützige Projekte sicherlich zu mehr Akzeptanz unter den StadtbewohnerInnen beitragen.
Als positives Besipiel ist der Club „About Blank“ zu nennen, der mit Soli-Parties Einnahmen für Refugees sammelt, alternative Kinoabende veranstaltet oder Workshops für Musikinteressierte gibt. Auch die „Wilde Renate“ hat ihre Räumlichkeiten in einen Corona-konformen, queeren Performance-Parcours umfunktioniert und die Tore des Biergartens standen für alle offen (sofern ein Ticket gebucht wurde).36 Sogar das Berghain hat sich in eine Kunstausstellung verwandelt, die in Kooperation mit dem Boros Bunker entstanden ist. KritikerInnen reden jedoch von einer totalen Entmystifizierung, da die Räumlichkeiten ihrer dunklen und geheimnisvollen Anziehungskraft beraubt wurden.
P.S. "Clubkultur ist ein Phänomen, das durch Körperlichkeit gekennzeichnet ist. Es dreht sich immer um ein tatsächliches Ereignis, das an einem physischen Ort stattfindet, an dem Menschen Musik erfahren und sich begegnen können. Die virtuelle Teilnahme an einer Clubveranstaltung ist somit kein Teil von Clubkultur." (Clubcomission Berlin E.V. (2019): Clubkultur Berlin, S.11)
Literatur:
Clubcomission Berlin E.V. (2019):
Clubkultur Berlin
Rave Culture and Religion, Edited by Graham St John (2004)
Hillegonda C Rietveld:
Ephemeral Spirit, Sacrificial Cyborg and Communal Soul
Anja Schwanhäußer (2010):
Kosmonauten des Underground - Ethnografie einer Berliner Szene
Andreas Reckwitz (2015):
Sinne und Praktiken - Die sinnliche Organisation des Sozialen
Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen
Reckwitz, Andreas (2008):
Unscharfe Grenzen - Perspektiven der Kultursoziologie
Gernot Böhme; Jean-Paul Thibaud (Ed.) (2016):
The Aesthetics of Atmospheres
Simmel, Georg (1999):
Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung
Rausch und Ekstase, Erkundungen der Spaßgesellschaft, Soziologie Magazin, Heft 19,(2019)
Bräunlein, Peter J.(2012):
Zur Aktualität von Victor W. Turner, Einleitung in sein Werk, In betwixt and between:„
Liminalität “ und „Communitas “
Smallwood, Jonathan; Schoole, Jonathan W. (2006):
The Restless Mind, Psychological Bulletin, Vol. 132, No. 6,
„Synthetic Space“ spielt mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „synthetisch“. Zum einen bedeutet es künstlich (erzeugt) und könnte so auf ein virtuelles Verlagern hindeuten, von dem auch Peter Weibel in seinem Essay „Virus, Viralität, Virtualität“ erzählt. Er fragt nach dem Sinn von Orten wie Konzerthallen oder Spielstätten, da wir aus den "Unterhaltungsformen der Nahgesellschaft", in eine "Ferngesellschaft" übergehen würden.
Von Synthese spricht man auch, wenn einzelne (gegensätzliche) Elemente sich zu einem neuen (höheren) Ganzen verbinden. Diese Interpretation eröffnet die Bedeutung von kollektiver Raumproduktion und -erfahrung. Wie Lefebvre sagte: Raum ist immer sozial konstruiert.
Wie können alternative Freiräume entworfen werden, die sinn-, gemeinschafts- und identitätsstifend wirken, für jeden frei zugänglich sind und abseits kommerzieller Interessen funktionieren? Ausgehend vom RAW Gelände, an der Warschauer Straße in Berlin, entwickelt sich die Arbeit in eine Untersuchung über die Berliner Club Culture. Die Idee eines kollektiven, atmosphärischen Wahrnehmungsraumes, als Ort des Austauschs und der Begegnung, bildet das Fundament.
Das Fazit lautet: Berlins (soziokulturelle) Freiräume müssen Bestandteil des Stadtzentrums bleiben und dürfen nicht an den Stadtrand gedrängt werden. Vielmehr muss ein urbanes Gleichgewicht geschaffen werden aus Orten die keinen produktiven Nutzen verfolgen und nicht auf den Güterkonsum ausgelegt sind.
Atmosphärisches Mapping: RAW Gelände Collage
Bereits 2015 hat KURTH Immobilien das RAW Gelände zu großen Teilen (52 000 m²) aufgekauft. Erhalten bleiben soll das "Kulturelle L", ein Zusammenschluss aus Kunst- und Kulturvereinen sowie alternativen Gastronomie-Betrieben. Der Großteil wird jedoch entfernt und neu bebaut. Cafes, Gewerberäume, Wohnungen sollen unter anderem her, es soll jedoch auch ein neuer, repräsentativer Stadtplatz entstehen. Der neue Bebauungsplan wird die Atmosphäre um die Warschauer Straße herum vermutlich stark verändern. Der wild zusammengeschusterte Charme des RAW'S, zu dem ganz unterschiedliche AkteurInnen der Stadt beigetragen haben, wird an das hochglanzpolierte Areal um die Mercedes Benz Arena angepasst. RAW steht für Reichsbahnausbesserungswerk und gilt als alternatives Kulturprojekt. Bis heute werden dort viele Häuser selbst verwaltet und an Kulturschaffende vermietet, so befinden sich auf dem Areal nicht nur Ateliers und Werkstätten, sondern Liveclubs (z.B. ehemaliger RAW Tempel, Cassiopeia, Suicid Circus), Bars, Proberäume, ein Freiluftkino mit Kletterwänden, eine Skatehalle, Konzerthallen und auch ein sonntäglicher Flohmarkt findet dort statt.
PETER WEIBEL IN "VIRUS, VIRALITÄT, VIRTUALITÄT"
"Es scheint nun, dass die gigantischen Stadien und Opernhäuser die Pharaonengräber der Zukunft sind. Übersteigerte bizarre Architektur-Signaturen, bereits geschaffen im Bewusstsein des Todes der Unterhaltungsformen der Nahgesellschaft, werden sich in Kürze als überflüssig erweisen. Wenn sie denn ohne Publikum bleiben, wenn es nur noch Geisterspiele in Stadien und Konzerthäusern gibt, wird man sich fragen, warum man eigentlich solche gigantischen leeren Spielstätten benötigt." https://zkm.de/de/virus-viralitaet-virtualitaet
Sensory Scapes – zur Politik der Oberfläche (Seminar bei Sophia Prinz)
1. Einleitung
Tanzveranstaltungen mit überfüllten Innenräumlichkeiten sind aktuell unvorstellbar. So soll im Juli eine Clubbesucherin in der Schweiz ungefähr 280 Menschen angesteckt haben, trotz negativen Corona-Test1. Belege für solche Masseninfektionen im Club häufen sich. Berlin ist Risiko-Gebiet, ab kommenden Samstag dürfen sich nur noch maximal fünf Personen im Freien treffen. Die B.Z. berichtet: „Die Maßnahmen zielen vor allem auf private Feiern und illegale Partys, die die Berliner Behörden als Treiber des Infektionsgeschehens sehen.“2
Clubs stehen vor neuen Herausforderungen, die ihre gewohnten Konzepte in Frage stellen. Die Bedeutung solcher Orte rückt in ein neues Licht: als Orte sozialer Interaktion, die sich auch der wachsenden Verantwortung als „kulturelle Einrichtungen“ verschreiben möchten. Gleichzeitig formiert sich eine Gegenströmung in Form von illegalen Raves*, die weg von der Kommerzialisierung zu einem Revival der ursprünglichen Subkultur führt.
Was ist Clubkultur? Welchen gesellschaftlichen Stellenwert haben Clubs in einer Großstadt? Im Folgenden soll Raumerfahrung im Club als ästhetische Praktik, nach Andreas Reckwitz, analysiert werden.Ist das Konzept des Clubs, in einer vor Seuche erstarrten Gesellschaft, überhaupt noch umsetzbar?
2. Was ist Clubkultur?
Die hier angeführte Clubkultur bezieht sich auf die Nachwende-Generationen in Berlin, mit Hinblick auf die zeitgenössische Techno-Szene. Nach dem Mauerfall standen im Osten unzählige Gebäude unbenutzt und leer, da die sowjetischen Verwaltungen aufgelöst wurden und die Verantwortlichkeiten zunächst wegfielen.Viele VermieterInnen setzten auch auf bewussten Verfall der Immobilien, um teure Neubauten rechtzufertigen. Ein „Übermaß an Raum“3 beflügelte die Menschen Freiräume zu gestalten, mit Raum zu experimentieren und neue Subkulturen zu formieren. Das Besetzen von Häusern fing schon in den Siebziger Jahren an. Dieses Bedürfnis ging nicht nur mit mangelndem oder unbezahlbarem Wohnraum einher, sondern auch mit dem Wunsch nach einer parallelen Gesellschaft, die selbstverwaltet und alternativ sein wollte. Gelebte Heterotopien. Diese Strategie der Raumaneignung wurde schließlich auf die Eröffnungen von Bars und Clubs übertragen.4 So entstanden Andersorte zum geselligem Beisammensein.
„Eine neue Stadteilkultur entwickelt sich hier und schafft sich ihre eigene Infrastruktur. Bars, Clubs, Partyorte und Kunstgalerien ohne Konzession schießen wie Pilze aus dem Boden und verschwinden wieder, um an anderer Stelle erneut aufzutauchen.“5
Alte Industriebrachen, Häuser, Lagerhallen und alle möglichen Orte wurden umfunktioniert. Seien es Fabriken oder Bahnausbesserungswerke, wie das RAW Gelände an der Warschauer Straße.* Solche Orte eignen sich besonders, da sie eine hohe Raumkapazität bereit stellen und dadurch für ein intensives Klangerlebnis sorgen. Auch sind Fabrik- und Wohngelände meist vonaneinander getrennt, was einen weiteren Vorteil bei der Musiklautstärke bringt. Dabei sind die abgelegene, ehemalige Hundekuchenfabrik, das Sisyphos oder das ehemalige Heizkraftwerk Berghain im Osten Berlins zu nennen.
Bis ins Ende der Neunziger Jahre wuchs die Beliebtheit von Clubs immer mehr, sodass eine Kommerzialisierung und ein Abgleiten in den Mainstream unvermeidbar wurden. Besonders die Berliner Clubladschaft ist exorbitant ausgeprägt und ein beliebtes Reiseziel für Touristen aus aller Welt. Mit mehr als 9000 Arbeitsplätzen6 und einem Gesamtumsatz von schätzungsweise 168 Millionen Euro, zählt der Club- und Veranstaltungsbetrieb somit als erheblicher Attraktivitäts- und Wirtschaftsfaktor für die Stadt.7 Sogenannte Kollektive kümmern sich um das Cluberlebnis, was generiert werden soll. Die Tätigkeiten sind vielfältig: sie beinhalten die Mietung der Location (Club) und der jeweiligen technischen Geräte zur Wiedergabe von (Live) Musik, das Booking der Artists (Acts, DJ‘s), die Erstellung von Werbemedien (Poster, Flyer), das Schalten der Veranstaltung in den sozialen Netzwerken, das Organisieren von Sicherheitsfachkräften zur Türselektion und einem Awerness-Team bis hin zur Dekoration, Video- und Lichttechnik. Die meisten Clubs haben ihre Resident-Artists, ihr eigenes Sicherheits- und Barpersonal und besitzen auch entsprechende Technik zur Musikwiedergabe. Parallel dazu existieren immer noch Events die illegal-privat organisiert werden, dabei werden Locations für eine Nacht okkupiert und sind nicht für die dauerhafte Nutzung bestimmt. Dabei kann es sich sowohl um ein Open Air, ein Festival als auch eine verlassene Lagerhalle handeln. Die VeranstalterInnen emanzipieren sich und eigenen sich Raum an, dadurch gestalten sie ihre urbane Wirklichkeit aktiv mit. Üblicherweise agieren sie auf Spendenbasis und versuchen sich dadurch dem Mainstream zu entziehen.
6 Clubcomission Berlin E.V. (2019): Clubkultur Berlin, S32; Geschätzter Gesamtumsatz der Berliner Club- und Veranstaltungsszene
2017
7 Ebd., S. 29
8 Schulz, Andreas; Strukelj, Tanja (2019): Rausch und Ekstase, Erkundungen der Spaßgesellschaft, Soziologie Magazin,
Heft 19, Budrich Verlag, S. 1
9 Rietveld, Hillegonda C. (2004): Ephemeral Spirit, Sacrificial Cyborg and Communal Soul , Rave Culture And Religion,
Edited by Graham St. John, S. 52-53
10 Vgl. Simmel, Georg (1999): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Suhrkamp,
S.734; „Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt“
11 Vgl. Böhme, Gernot; Thibaud, Jean-Paul (2016): The Aesthetics of Atmospheres, S. 287
12 Clubcomission Berlin E.V. (2019): S. 29
13 Reckwitz, Andreas (2015): Sinne und Praktiken - Die sinnliche Organisation des Sozialen, S. 452
14 Reckwitz, Andreas (2019): Ästhetik und Gesellschaft - ein analytischer Bezugsrahmen, S.25;
„1.Selbreferenzialität sinnlicher Wahrnehmung vs. instrumentelle Wahrnehmung“
15 Vgl. Ebd., S.23
16 Vgl. Ebd. S.26, 29
17 Reckwitz, Andreas (2015): S. 453
18 Reckwitz, Andreas (2019): S. 27; 2. „Kreative Gestaltung“ vs. regelorientiertes Handeln“
19 Vgl. Böhme, Gernot; Thibaud, Jean-Paul (2016): S.255
20 Vgl. ebd., S.255
21 Vgl. ebd. : S.258-259
22 Reckwitz, Andreas (2019): S. 27; 3. Affiziertheit vs. Affektneutralität
23 Reckwitz, Andreas (2019): S. 34
24 Vgl. Reckwitz, Andreas (2008): Unscharfe Grenzen - Perspektiven der Kultursoziologie, transcript, S. 271;
„4.Interpretationen vs. Informationen“
25 Vgl. Clubcomission Berlin E.V. (2019): S. 12
26 Reckwitz, Andreas (2019): S. 29; 5. Spiel vs Ordnung
27 Vgl. Bräunlein, Peter J. (2012): Zur Aktualität von Victor W. Turner, Einleitung in sein Werk, In betwixt and between:„
Liminalität “ und „Communitas “, Springer, S.52
28 Vgl. Smallwood, Jonathan; Schoole, Jonathan W. (2006): The Restless Mind, Psychological Bulletin, Vol. 132, No.
6, S. 947, 951
29 Hoffmann , Arthur (2019): Rausch und Ekstase, Erkundungen der Spaßgesellschaft, Soziologie Magazin, Heft 19,
Budrich Verlag, S. 35
30 Schwanhäußer, Anja (2010): S. 13
31 Hoffmann , Arthur (2019): S.39
32 Vgl. Clubcomission Berlin E.V. (2019): S. 15,
https://www.creative-footprint.org/wp-content/uploads/2020/06/Methodology-
Creative-Footprint.pdf
33 https://taz.de/Berliner-Clubszene/!5727462/ letzter Zugriff: 20.12.20, 14:54
34 Vgl. Clubcomission Berlin E.V. (2019): S. 5
35 https://taz.de/Berliner-Clubszene/!5727462/, letzter Zugriff: 20.12.20, 14:54
36 Overmorrow - Immersiv Art Exhibition, https://www.overmorrow.de/, letzter Zugriff: 13.11.20, 18:13
3. Welchen gesellschaftlichen Stellenwert hat Clubkultur? Kann Clubkultur als
ästhetische Praktik verstanden werden?
Das Feiern von Festen ist ein konstitutiver Bestandteil der Menschheitsgeschichte, darauf begründet, dass in „allen Gesellschaften (zu allen Zeit und allerorten) […] irgendwelche kulturelle Rahmenbedingungen des Erlebens vorproduziert und vororganisiert [werden], die den Menschen außergewöhnliche Erlebnisse bzw. außeralltägliche Erlebnisqualitäten in Aussicht stellen.“8 Was einst mit der Religion verwoben war, wie es der Karneval als religiöses Relikt offenbart, stellt sich einer zeitgenössichen Neuinterpretation oder Sinnsuche. So könnte auch die voranschreitende Säkularisierung mit einer gesteigerten Lust nach Konsum und körperlicher Stimulation zusammenhängen. Bei der Suche nach neuer Spiritualität finden Reizüberflutung und Überstimulierung der Wahrnehmung ihre besondere Bedeutung und werden bei einer Clubnacht bewusst inszeniert, um als einprägende Erfahrung verinnerlicht zu werden. Club-Räume sind menschenüberfüllt, verqualmt mit Zigarettenrauch und künstlich erzeugtem Nebel. Gesprächsfetzen sind permanent zu hören, grelle Lichter und Laser schießen über die Tanzflächen. Schweiß- und Alkoholgeruch hängen in der Luft. Laute elektronische Musik dröhnt aus der Function One und hypnotisiert die Gäste. Repetitive, computergesteuerte Sounds münden in der Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine.9
Schon Simmel spricht von einer Anpassung der Sinne an voranschreitende Entwicklungen in einer modernen Großstadt, der Mensch schütze sich mit verminderter Reizwahrnehmung vor Reizüberflutung („Choc-Wirkung“).10 Um dem Gefühl von Entsinnlichung in der anonymen, schnelllebigen und rationalisierten Großstadt zu entkommen, wächst das Verlangen nach einer intensiven, sinnlich-körperlichen Erfahrung umso mehr. Böhmes Betrachtung kann dabei als Analogie verstanden werden, indem er darauf hinweist, dass Musik seit dem zwanzigsten Jahrhundert bis heute immer mehr zur freien Verfügung stehe, was einer Lärmbelästigung gleich käme. Durch diese dauerhafte Verfügbarkeit würde jedoch auch das Verlangen nach Musik umso mehr steigen, da Musikkonsum zum wichtigen Lebensbestandteil der Menschen geworden sei.11
Das Rituelle kommt mit dem Habitus, also mit der regelmäßigen Teilhabe an Veranstaltungen und dem sich daraus ableitendem Sozialverhalten zum Ausdruck. Soziale Gruppierungen formieren sich, die sich anhand ihres Kleidungsstils und ihres Mindsets („Spirit“) zusammengehörig fühlen. Bereits intakte soziale Strukturen werden auf diese Weise gefestigt oder es kommt zu einer Erweiterung des sozialen Kreises. Laut Clubcommision Berlin E.V. sehen viele Berliner den Club als „verlängerte[s] Wohnzimmer“. 12
Club Culture proklamiert gegenseitigen Respekt, Offenheit, Solidarität, Anti-Diskriminierung und den Kampf gegen Homophobie („PLUR“: Peace, Love, Unity, Respect). Dadurch entstehen nicht nur Schutzräume für marginalisierte Gruppen der LBGTQ* oder PoC Communities, sondern auch Räume für indentitäre Experimente die sich expressiv oder sexuell äußern können. Potentiell eröffnet der Clubraum Begegnungen aus weltweit unterschiedlichen Kulturen und sozialen Hierarchien. Grundsätzlich enstehen Räume des Austauschs und der kollektiven „ästhetischen Wahrnehmung“. Andreas Reckwitz sieht ästhetische Wahrnehmung als wesentliches Merkmal von ästhetischen Praktiken, welche aktuell immer mehr Einfluss auf die Gesellschaft nehmen würden.13 Dabei gehe es nicht um zweckrationales Wahrnehmen zur Informationsgewinnung, als vielmehr das sinnliche Erleben selbst.14 Diese „Selbstreferenzialität“ definiert er als das erste von fünf Kriterien ästhetischer Praxis. So ist auch die Cluberfahrung an das sinnliche Erleben der Umgebung gebunden, die für diesen Zweck szenisch gestaltet wurde (Musik, Deko, Licht, usw.). Das Fotografieren und Filmen ist im Club untersagt, so erhöht sich der Fokus auf das sinnliche Wahrnehmen der Umgebung. Reckwitz betont dabei die Untrennbarkeit zwischen dem Sozialen und dem Sinnlichen, da beides einander bedinge.15 Erst ein wahrnehmender Körper sei zum sozialen Interagieren befähigt, soziale Handlungen wiederum beinflussen die sinnliche Wahnehmung.16 So sei auch die Beurteilung ästhetischer Praktiken nicht von sozialen und somit kulturellen Phänomen zu entkoppeln.17
Im Club zeichnet sich das Sinnlich-Soziale unter anderem in den selbstinszinierenden Tanz- und Kleidungsstilen der Gäste ab. Verkleidungen und Outfits werden extra gefertigt oder erworben, sie reichen von Glitzer-Makeup über aufwendig konzipierte Drag- Queen-Kostüme. Der Clubraum offenbart sich somit als permanent performative Bühne. Die Grenzen zwischen RezipientInnen und ProduzentInnen verwischen, denn das Publikum wird in die Gestaltung der Raumatmosphäre involviert. Auch diesen perfomativen Moment benennt Reckwitz als Merkmal von ästhetischen Praktiken.18 Das Prinzip des Clubs kann grundlegend als sinnlich-soziale Erfahrung eingeordnet werden, denn es basiert auf der Wechselwirkung zwischen Artists und Publikum und dem Publikum untereinander. Erfahrene Artists versuchen die Stimmung des Publikums aufzufangen und zu dirigieren, was unter anderem in Pausen, Drops, schnellen oder langsamen Wechseln der Musik, also einer An- und Entspannung zum Ausdruck kommt. Auch das Lichtdesign und eventuelle Visuals (Videokunst) erzeugen Stimmungen und lenken diese. Solche Stimmungen reichen von wild, fröhlich-ausgelassen bis aggressiv, erhaben, traurig oder stumpf.
Ein (Musik-)erlebnis, welches gegensätzliche Gefühle hervorruft, erzeugt dadurch eine wirkunsgvollere und eindringlichere Atmosphäre.19 Jeder gute Club bedient sich dabei seiner ganz eigenen Stilmittel und Markenzeichen, um bestimmte Atmosphären zu suggerieren und letztendlich zu verkaufen, denn auch Atmosphären sind nach Böhme zu Urteil reproduzierbar.20
Verdichtet sich die emotionale Stimmung der Gäste, so verdichtet sich die Atmosphäre im Raum, Böhme beschreibt diesen Effekt als affektive Resonanz. Musik sei dabei ein besonderes Kriterium, da sie als „sound material“ nicht nur die emotionale Stimmung der Anwesenden direkt beinflusse sondern auch den physischen Raum transformiere.21 Nach Reckwitz eröffnet diese „Affiziertheit“ die dritte Eigenschaft ästhetischer Praxis.22
Der Rationalismus des routinierten Alltags wird durch ästhetische Praktiken kompensiert. 23 „Im Interesse an einer Steigerung und Intensivierung von Erleben, Wahrnehmung, Gestaltung und Affekt forcieren sie eine offensive Semiotisierung von Welt“.24 Diese „Semiotisierung“ bzw. Bedeutungssysteme können mehrdeutig interpretiert werden, und lassen sich nicht auf einen bestimmten Zweck reduzieren.24 Als Beispiel dafür können die Dekorationen eines Clubraums dienen, die sich in fiktiven Szenarien manifestieren, so in etwa „das Subkulturelle (“der Keller”), das Sakrale (“die Kathedrale”), das Maritime (“das Boot”), das Rustikale (“die Holzhütte”), das Verruchte (“das Bordell”), das Knallige (“der Vergnügungspark”), das Psychedelische (“der Dschungel”), usw.“.25 Zweckrationalität wird durch das Irrationale und das Spielerische abgelöst.
Das äußert sich vor allem auch in der Erprobung neuer und experimenteller Musikformen und deren Weiterentwicklung. Es können neue Genres enstehen, die wiederum die Entstehung neuer Subkulturen fördern. Durch das Experiment werden Elemente auf kreative Weise kombiniert, um unbekannte Möglichkeiten zu erproben. „Die experimentelle und grenzüberschreitende Struktur ästhetischer Praktiken bietet den Hintergrund für eine kritisch-selbstreflexive Öffnung , die der ästhetischen Praxis einen politischen Charakter geben kann. Sie sind [...] so reguliert, dass der experimentelle oder grenzüberschrreitende Umgang mit Sinnen, Affekten und Interpretationen in ihnen ermutigt oder verlangt wird“.26
Auch Victor W. Turner spricht Ritualen eine liminalen Zustand zu, der beschreibt, dass man sich in einer mehrdeutigen Übergangsphase befindet die zum Nachdenken anstößt.27 Die tranceartig ausgeführten Tanzbewegungen, die bis zu mehreren Stunden anhalten können, in Kombination mit der extrem lauten, repitativen Musik bieten die ideale Grundlage, um interne Denkprozesse freizulegen. Unterhaltungen sind nicht möglich, man ist auf seinen Körper ausgerichtet, die äußeren Reize werden gedämpft, da sonst eine totale Reizüberflutung eintreten würde (Schock), dadurch stellt sich das obligatorische „mind wandering“ ein. Ein Phänomen, was bei automatisierter oder einfacher Aufgabensbewerkstelligung auftritt, um die eigenen Gedanken und Emotionen unterbewusst zu observieren und anschließend zielbewältigende Handlungen zu aktivieren.28
Psychologisch betrachtet werden durch Rituale „kollektive Vorstellungen, Werte, Normen und Mythen einer Gesellschaft revitalisiert“ und es kommt zu einer temporalen Ablösung vom gewohnten Alltagsleben, der profanen Welt.29 Clubkultur kann als ästhetische Praktik verstanden werden, die Raum für Reflexion, Interaktion und Kompensation bietet. Bekannte Denkkategorien und normative Systeme werden hinterfragt, was sich unter anderem mit Musik- und Gestaltungsexperimenten, queeren Kollektiven/Initiativen oder dem Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit äußert. So etwa in Form von weiblichen Türsteherinnen. Ob sich dadurch ein subversives Potential verwirklicht ist fragwürdig. Auch in der Clubkultur gibt es große Defizite, so in etwa in der Etablierung weiblicher DJ‘s. Hinzu kommt, dass Clubkultur auf kulturindustriellen Prinzipien, also der ökonomischen Verwertung und Gewinnmaximierung, beruht.
4. Ausblick
Das Konsumieren von Erlebniswelten zeichnet unsere Gesellschaft aus, was nach Anja Schwanhäußer mit einer „Festivalisierung“ der StadtbewohnerInnen einhergehe.30 Mit unzähligen Event-Angeboten reagiert die Kulturindustrie darauf das Gefühl von Zusammengehörigkeit durch das kollektive Erleben zu vermarkten und Hedonismus salonfähig zu machen. Erfahrung wird kommodifiziert. Club Culture verschreibt sich ganz klar dem Vergnügen. Dabei werden heterotope Welten simuliert, die nicht jedem zugänglich sind. TürsteherInnen selektieren willkürlich die Crowd, außer man steht auf der Gästeliste und entkoppelt sich aus dem Prozedere des Anstehens, um reinzukommen. Das auserwählte Publikum beteiligt sich dabei maßgeblich mit seinen Stimmungen an der Gestaltung der Raumatmosphäre. Die Idealvorstellung einer verbündeten Welt voller Liebe und Glück eröffnet sich jedoch einem eher westlich geprägten und gut situiertem Publikum. Gleichzeitig findet in der Clubkultur eine mentale Aufarbeitung statt, um mit der voranschreitenden Digitalisierung und Technisierung in unserer postmodernen Gesellschaft umzugehen und für kreative Prozesse umzudeuten oder diese sogar zu steigern.„Im Allgemeinen erhält der Exzess also seine Legitimation, wenn er als Vorbedingung der Produktion im Sinne einer reproduktiven Auszeit gilt und die alltägliche Sphäre der Produktion positiv beeinflusst, wenn nicht erst ermöglicht.“31
So misst der „Creative Footprint“ die Impacts kultureller Orte, sowie des Nachtlebens, auf eine Stadt. Diese Initiative konnte nachweisen, dass Berlins Attraktivität durch Clubs steigt, insbesondere für die „Creative Class“32. Diese Attraktivität befeuert widerum die Gentrifizierung und führt zu Clubsterben. Durch steigende Mieten werden Clubs zu Schließungen und Verdrängungen an den Stadtrand gezwungen, wie der neu eröffnete Club Grießmühle in Berlin Schöneweide bezeugen kann. (Ursprünglicher
Standort: S-Bahnhof Sonnenallee)
Schon lange fordern Clubs eine Gleichstellung mit kulturellen Einrichtungen, wie Theatern oder Konzerthäusern. Seit November 2020 wurde die Baunutzungsverodnung vom Berliner Senat nach langem Kampf geändert, sodass Clubs in Berlin nicht mehr als „Vergnügungsstätten“ gelten und dadurch mit Bordellen oder Spielotheken gleichgestelltwerden.33 Laut Clubcomission Berlin erschwere dieses Image nicht nur längerfristige Mietverträge, sondern auch finazielle Förderungen.34 Das Berghain hat es schon 2016 vorgemacht: das Finanzgericht Berlin-Brandenburg erkennt seine Veranstaltungenals kulturell an. Kulturelle Leistungen dieser Art werden mit nur 7% Umsatzsteuer belegt.35
Besonders die Corona-Pandemie macht deutlich, dass alternative Bespielungsformate entwickelt werden müssen, die nicht nur die lokale Kulturszene fördern. Das fängt schon mit einer kritischen Haltung gegenüber der Artist- bzw. Musikauswahl (Stichwort: kulturelle Aneignung) an. In Berlin gibt es queere Kollektive wie „Room 4 Resistance“ oder das „No Shade Kollektiv“, die sich sich aktiv für mehr gender diversity einsetzen. Auch das Label „New World Dysorder“ fördert die QTPOC-Szene. Nicht zuletzt würde ein Integrieren der „Öffentlichkeit“ durch gemeinnützige Projekte sicherlich zu mehr Akzeptanz unter den StadtbewohnerInnen beitragen.
Als positives Besipiel ist der Club „About Blank“ zu nennen, der mit Soli-Parties Einnahmen für Refugees sammelt, alternative Kinoabende veranstaltet oder Workshops für Musikinteressierte gibt. Auch die „Wilde Renate“ hat ihre Räumlichkeiten in einen Corona-konformen, queeren Performance-Parcours umfunktioniert und die Tore des Biergartens standen für alle offen (sofern ein Ticket gebucht wurde).36 Sogar das Berghain hat sich in eine Kunstausstellung verwandelt, die in Kooperation mit dem Boros Bunker entstanden ist. KritikerInnen reden jedoch von einer totalen Entmystifizierung, da die Räumlichkeiten ihrer dunklen und geheimnisvollen Anziehungskraft beraubt wurden.
P.S. "Clubkultur ist ein Phänomen, das durch Körperlichkeit gekennzeichnet ist. Es dreht sich immer um ein tatsächliches Ereignis, das an einem physischen Ort stattfindet, an dem Menschen Musik erfahren und sich begegnen können. Die virtuelle Teilnahme an einer Clubveranstaltung ist somit kein Teil von Clubkultur." (Clubcomission Berlin E.V. (2019): Clubkultur Berlin, S.11)
Literatur:
Clubcomission Berlin E.V. (2019):
Clubkultur Berlin
Rave Culture and Religion, Edited by Graham St John (2004)
Hillegonda C Rietveld:
Ephemeral Spirit, Sacrificial Cyborg and Communal Soul
Anja Schwanhäußer (2010):
Kosmonauten des Underground - Ethnografie einer Berliner Szene
Andreas Reckwitz (2015):
Sinne und Praktiken - Die sinnliche Organisation des Sozialen
Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen
Reckwitz, Andreas (2008):
Unscharfe Grenzen - Perspektiven der Kultursoziologie
Gernot Böhme; Jean-Paul Thibaud (Ed.) (2016):
The Aesthetics of Atmospheres
Simmel, Georg (1999):
Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung
Rausch und Ekstase, Erkundungen der Spaßgesellschaft, Soziologie Magazin, Heft 19,(2019)
Bräunlein, Peter J.(2012):
Zur Aktualität von Victor W. Turner, Einleitung in sein Werk, In betwixt and between:„
Liminalität “ und „Communitas “
Smallwood, Jonathan; Schoole, Jonathan W. (2006):
The Restless Mind, Psychological Bulletin, Vol. 132, No. 6,
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